Berufsethik für Naturwissenschaftler

Aus „Duldsamkeit und intellektuelle Verantwortlichkeit“ von Karl R. Popper:

[…] Ich schlage deshalb eine neue Berufsethik vor; vor allem, aber nicht nur, für Naturwissenschaftler. Ich schlage vor, sie auf folgende zwölf Prinzipien zu gründen […]

1. Unser objektives Vermutungswissen geht immer weiter über das hinaus, was ein Mensch meistern kann. Es gibt daher keine Autoritäten. Das gilt auch innerhalb von Spezialfächern.

2. Es ist unmöglich, alle Fehler zu vermeiden oder auch nur alle an sich vermeidbaren Fehler. Fehler werden dauernd von allen Wissenschaftlern gemacht. Die alte Idee, dass man Fehler vermeiden kann und daher verpflichtet ist, sie zu vermeiden, muss revidiert werden: Sie selbst ist fehlerhaft.

3. Natürlich bleibt es unsere Aufgabe, Fehler nach Möglichkeit zu vermeiden. Aber gerade um sie zu vermeiden, müssen wir uns vor allem klar darüber werden, wie schwer es ist, sie zu vermeiden, und dass es niemandem völlig gelingt. Es gelingt auch nicht den schöpferischen Wissenschaftlern, die von ihrer Intuition geleitet werden: Die Intuition kann uns auch irreführen.

4. Auch in den am besten bewährten unter unseren Theorien können Fehler verborgen sein; und es ist die spezifische Aufgabe des Wissenschaftlers, nach solchen Fehlern zu suchen. Die Feststellung, dass eine gut bewährte Theorie oder ein viel verwendetes praktisches Verfahren fehlerhaft ist, kann eine wichtige Entdeckung sein.

5. Wir müssen deshalb unsere Einstellung zu unseren Fehlern ändern. Es ist hier, wo unsere praktische ethische Reform beginnen muss. Denn die alte berufsethische Einstellung führt dazu, unsere Fehler zu vertuschen, zu verheimlichen und so schnell wie möglich zu vergessen.

6. Das neue Grundgesetz ist, dass wir, um zu lernen, Fehler möglichst zu vermeiden, gerade von unseren Fehlern lernen müssen. Fehler zu vertuschen ist deshalb die größte intellektuelle Sünde.

7. Wir müssen daher dauernd nach unseren Fehlern Ausschau halten. Wenn wir sie finden, müssen wir sie uns einprägen; sie nach allen Seiten analysieren, um ihnen auf den Grund zu gehen.

8. Die selbstkritische Haltung und die Aufrichtigkeit werden damit zur Pflicht.

9. Da wir von unseren Fehlern lernen müssen, so müssen wir es auch lernen, es anzunehmen, ja, dankbar anzunehmen, wenn andere uns auf unsere Fehler aufmerksam machen. Wenn wir andere auf ihre Fehler aufmerksam machen, so sollen wir uns immer daran erinnern, dass wir selbst ähnliche Fehler gemacht haben wie sie. Und wir sollen uns daran erinnern, dass die größten Wissenschaftler Fehler gemacht haben. Ich will sicher nicht sagen, dass unsere Fehler gewöhnlich entschuldbar sind: Wir dürfen in unserer Wachsamkeit nicht nachlassen. Aber es ist menschlich unvermeidbar, immer wieder Fehler zu machen.

10. Wir müssen uns klarwerden, dass wir andere Menschen zur Entdeckung und Korrektur von Fehlern brauchen (und sie uns); insbesondere auch Menschen, die mit anderen Ideen in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen sind. Auch das führt zur Toleranz.

11. Wir müssen lernen, dass Selbstkritik die beste Kritik ist; dass aber die Kritik durch andere eine Notwendigkeit ist. Sie ist fast ebenso gut wie die Selbstkritik.

12. Rationale Kritik muss immer spezifisch sein: Sie muss spezifische Gründe angeben, warum spezifische Aussagen, spezifische Hypothesen falsch zu sein scheinen oder spezifische Argumente ungültig. Sie muss von der Idee geleitet sein, der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Sie muss in diesem Sinne unpersönlich sein.

Ich bitte Sie, meine Formulierungen als Vorschläge zu betrachten. Sie sollen zeigen, dass man, auch im ethischen Gebiet, diskutierbare und verbesserbare Vorschläge machen kann.

[…]